20.05.2020 | (rsn) - Denkwürdig, historisch, episch - mit diesen drei Wörtern begann vor zehn Jahren unser Text über die 11. Etappe des Giro d'Italia 2010. Denn dieser Tag ging tatsächlich in die Geschichtsbücher ein - und das in vielerlei Hinsicht. Ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben in den Abruzzen wollten die Giro-Organisatoren die arg gebeutelte Stadt L'Aquila besuchen und planten eine 262-Kilometer-Etappe von Lucera quer durchs Mittelgebirge. Das allein hätte wohl schon für einen denkwürdigen Tag sorgen können, doch starke Regenfälle würzten die Herausforderung noch intensiv nach - und das Peloton tat sein Bestes, um L'Aquila ein Spektakel zu bieten.
"So etwas habe ich in meiner ganzen Karriere noch nicht erlebt", sagte Milram-Sportdirektor Christian Henn im Zielort und brachte es damit wohl auf den Punkt. Nach der Ankunft in Bitonto am Vortag galt es für einige Teams, vor dem Start in Lucera noch mehr als 150 Kilometer im Bus zu fahren. Teilweise bedeutete das 7 Uhr Abfahrt. Auf den ersten Rennkilometern wurde dann mehrfach attackiert, bis das Hauptfeld schließlich eine sage und schreibe 56-köpfige Spitzengruppe gewähren ließ.
Mit dabei waren unter anderem Linus Gerdemann (Milram) und Carlos Sastre (Cervélo) sowie Bradley Wiggins (Sky) und vor allem der Gesamtsechste Richie Porte (Saxo Bank), der nur 2:26 Minuten Rückstand auf das Rosa Trikot von Alexander Winokurow (Astana) mit in den Tag gebracht hatte, sowie der Gesamtelfte David Arroyo (Caisse d'Epargne / 11. + 4:22) aus Spanien. Trotzdem ging die Lücke zum Feld schnell auf und wuchs auf bis zu 18 Minuten an.
Zwar schmolz die Spitzengruppe im Etappenverlauf etwas zusammen, doch das Hauptfeld verkleinerte sich deutlich schneller und hatte Mühe, den Abstand zur Spitze zu kontrollieren beziehungsweise zu verringern. Mit noch immer 12:30 Minuten Vorsprung gingen die Spitzenreiter in die 20 Schlusskilometer. Porte war auf dem Weg ins Maglia Rosa, Gerdemann kämpfte um den Tagessieg und die großen Favoriten im Feld mussten in der Verfolgung selbst intensiv mitarbeiten, um den Schaden in Grenzen zu halten.
Gerdemann 500 Meter vor dem Ziel abgefangen
Im Finale attackierte Quick-Step-Profi Dario Cataldo im vorletzten Anstieg sieben Kilometer vor dem Ziel, doch in der Abfahrt hinunter nach L'Aquila überholten ihn auf einer Straße, die einem Sturzbach glich, Gerdemann und Jan Bakelants (Omega Pharma - Lotto) - wobei der Belgier zwei Kilometer vor dem Ziel in einer Haarnadelkurve stürzte. Gerdemann ging die ansteigenden 1,5 Kilometer zum Zielstrich als Solist an, wurde dann aber rund 500 Meter vor Schluss vom deutlich flüssiger und in kleinerem Gang pedalierenden Russen Jewgeni Petrow (Katusha) überflügelt, der schließlich gewann.
Knapp 13 Minuten später erreichte die auf rund 15 Fahrer geschrumpfte Favoritengruppe das Ziel, so dass Porte Rosa übernahm. Am Rundfahrtende kam der damals 25-jährige Australier auf Gesamtrang sieben, Gerdemann wurde Gesamt-16. und beide hätten die Top 10 beziehungsweise Top 20 ohne diesen Tag verpasst.
Arroyo wird dank L'Aquila Giro-Zweiter
Von Porte sprach in L'Aquila die gesamte Radsport-Welt. Den größten Nutzen von Etappe 11 hatte im Nachhinein aber Arroyo. Der Spanier nämlich wurde in Verona nach drei Wochen als Gesamtzweiter geehrt, mit nur 1:51 Minuten Rückstand auf Giro-Sieger Ivan Basso (Liquigas). Bis zur 19. Etappe in Aprica trug Arroyo sogar Rosa, nachdem er es Porte auf der 14. Etappe in Asolo abgenommen hatte. Der Spanier schlug sich in den Bergen sehr gut, doch mit den Top 5 hätte auch er ohne L'Aquila nichts zu tun gehabt.
Es blieb für den damals 30-jährigen Arroyo der größte Erfolg seiner Karriere. Er fuhr zwar noch zwei weitere Jahre für Movistar und ging 2011 sogar als deren Kapitän an den Giro-Start. Doch über Gesamtrang 13 kam er nicht heraus. Nach einer durchwachsenen Saison 2012 ohne Grand Tour wechselte er 2013 zu Caja Rural und blieb dort bis 2017, um dann 2018 noch eine letzte Saison auf Continental-Level dranzuhängen und schließlich mit 38 seine Karriere zu beenden - eine Laufbahn, zu deren Höhepunkt er an jenem 19. Mai 2010 in L'Aquila den Grundstein gelegt hatte.
Die letzte Rennstunde im Video (spanischer Kommentar):
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